Der Fall Garnisonkirche
Zufälle gibt es. Eigentlich verkauft mein kleiner Lieblingsladen im Zentrum Potsdams gar keine Krimis. Doch bei einem meiner Besuche stieß er mir gleich ins Auge: Kaum stand ich an der Kasse, wurde dieses Buch dort verkauft. Und so gelangte der Potsdam-Krimi „Der Fall Garnisonkirche“ in meinen Besitz. Bereits im Jahr 2015 ist dieses Buch von Christine Anlauff erschienen. Von jener Selbstgewissheit des Fördervereins zum Wiederaufbau der Garnisonkirche damals überrumpelt, handelt ihre Geschichte in der Jahresmitte 2016. Laut früheren Planungen sollte da der Aufbau des Turms bereits voll im Gange sein, um noch bis zum Lutherjahr 2017 Einweihung feiern zu können. So schnell wie im Farbprospekt ging das dann doch nicht alles. Heute wissen wir: Das Buch erschien vier Jahre zu früh. Für eine Rezension in der Stadtteilzeitung ist nun der richtige Zeitpunkt.
Hauptfigur des Krimis ist der Buchrezensent Justus Verloren aus Potsdam, dessen Interesse aber weniger der von ihm zu beurteilenden literarischen Vielfalt gilt als der Wirkung, welche sein Urteil in der Öffentlichkeit hat. Hochloben oder vernichten. Neue Autoren befördern oder Talente niedertreten. Ungefragt eingesandte Manuskripte landen da schon mal ungelesen im Altpapier, ein gnädiges oder vernichtendes Urteil der für würdig befundenen Werke ist auch von der Stimmung abhängig. Durchaus zu dem beschriebenen Charakter passend ist da seine private Seite: So wird der Verlauf zum Wiederaufbau des Garnisonkirchenturms auf dem eigenen Blog ebenso vermeintlich neutral kommentiert, die Mischung aus Neugier und Ablehnung aber nur oberflächlich kaschiert.
Schon bald wird die Garnisonkirche auch ein Thema für ihn als Rezensent, als unverhofft ein Manuskript mit einem Potsdam-Krimi vor seiner Tür liegt. Auch dieses findet ungelesen den Weg ins Altpapier. Der neuen Geliebten Verlorens ist es zu verdanken, dass das Papier doch noch die Aufmerksamkeit des Rezensenten bekommt. Und immerhin hangelt sich die Geschichte sehr nah an Ereignissen rund um das Wachsen des Garnisonkirchenturmstumpfes und die politischen Auseinandersetzungen der Menschen drumherum entlang, die auch wenig später eintreten. Ausgerechnet ihn, den Rezensenten, scheint die vorgefundene Geschichte mit vielen persönlichen Details zur Hauptfigur zu machen.
Und bald schon steuert das Buch auf ein dramatisches Ereignis zu: Der Sperrung der Breiten Straße. Ausgelöst durch die erneute Sprengung der Garnisonkirche. Und dazu noch eine Leiche in den Trümmern, die Hauptdarsteller Verloren nicht mal aus dem so detaillierten Manuskript vorhersehen konnte. So wird er auf eigene Faust zum Ermittler für die Sprengung und den Toten. Doch so sehr sein Manuskript heiße Fährten liefert und zu tatsächlich vorhandenen Personen führt, deutet es als Täter immer wieder zurück auf ihn selbst. Den Schlüssel zu alledem kann nur der Verfasser jener Blätter liefern, der ihn schon länger intensiv und unerkannt zu beobachten scheint. Kann es Verloren gelingen, bei der Reise an Potsdamer Orte, die es so oder ganz ähnlich tatsächlich gibt, mit den richtigen Menschen ins Gespräch zu kommen und Antworten zu finden? Ist jener Mord zum Anfang des Buches nun ein Nebeneffekt der Turmsprengung oder der eigentliche Zweck? Das Buch führt die Leser immer wieder an neue Potsdamer Orte, eine Schnitzeljagd vor vertrauter Kulisse wie in eher unscheinbaren Gegenden, die erst die genaue Beobachtung der Autorin in den Fokus rückt.
Mir entlockte das Buch dabei manches Mal ein schiefes Lächeln oder ich zog gar eine Augenbraue hoch. Denn die Autorin Christine Anlauff ist dafür bekannt, Menschen aus ihrer Umgebung in Form ihrer handelnden Figuren zu verewigen. Ist womöglich der anonyme Verfasser des Manuskriptes in ihrem Buch, der durch erschreckende Detailkenntnis den Rezensenten irritiert, am Ende ein Spiegelbild ihrer selbst? Sind womöglich dann noch weitere Parallelen zwischen dem Krimi und der Realität zu erwarten? Gerade die Beschreibung von Charakteren, wie es sie in Potsdam tatsächlich gibt, macht das Buch erst so authentisch. Für diese ungewöhnliche, kurzweilige und dabei brandaktuelle Reise im Zeitraum zwischen der neuen Fundamentplatte für die Garnisonkirche bis hin zu ihrer – denkbaren – Sprengung ist jetzt jedenfalls genau der richtige Zeitpunkt zur Lektüre dieses Krimis. | Andreas Kellner
Der Fall Garnisonkirche
Christine Anlauff
be.bra verlag, 2015
ISBN 978-3-89809-537-2
9,95 €
Zur Autorin: Als Kind las Tini alles, was ihr unter die Augen kam: vom Kinderbuch bis zur christlichen Aufbauliteratur ihrer Mutter. Berührungsängste mit den verschiedenen Literaturgattungen sind ihr daher fremd. Den ersten literarischen Erfolg konnte sie mit Mitte zwanzig verbuchen, als sie einen Berliner Jugendliteraturwettbewerb gewann. Fast hätte sie gar nicht teilgenommen, doch dem Drängen ihrer Schwester und den ausgelobten „tollen Sachpreisen“ konnte sie nicht widerstehen. Inzwischen hat sie acht Bücher veröffentlicht. Fünf davon sind in Potsdam spielende Kriminalromane. „Im Krimi lassen sich beiläufig alle möglichen sozialen, zwischenmenschlichen und ähnliche Themen flechten, ohne gleich mit dem ‚wichtig-wichtig‘-Zeigefinger herumzuwedeln“, sagt Tini Anlauff. Ihren ursprünglichen Plan, sich in allen ihr bekannten Genres auszuprobieren, hat sie jedoch nicht aufgegeben. Ihr Blick für die Absurditäten des Alltags, Abgründe, die sich hinter Wohlanständigkeit verbergen, liefern ihr mehr als genug Stoff dafür. Ob diese Geschichten nun als Krimi, Gedicht oder Gegenwartsliteratur erzählt werden wollen. In diesem Sinne wird ihr im Herbst bei Audible als Hörbuch erscheinender Roman ein Coming of age* vor dem Hintergrund der niedergehenden DDR sein. Tini ist für alles offen und ihre Fans sicher auch. | Edith Schwarz
*Coming-of-Age-Romane haben das Erwachsenwerden, den Übergang vom Jugend- zum Erwachsenenalter zum Thema