Nachbarschaftsroman – Teil 1

Foto: Andreas Kellner

Jonas wachte auf. Über ihm ratterte der Orientexpress von Brandenburg nach Frankfurt, das Gemäuer fing die dumpfen Geräusche auf und verstärkte sie. Schon eine ungewöhnliche Unterkunft, die er da bezogen hatte. Filigrane gotische Bögen trugen ein schweres Steingewölbe, im Schein der Lampe schien der steinerne Dämon an der Decke durch die Seele zu blicken. Dieser hatte schon vor vielen Jahrhunderten schutzsuchende Reisende nach Brandenburg an die Gefahren auf ihrem Weg gemahnt. Als viel später eine Windmühle an dieser Stelle auf einem kleinen Hügel aus Stein und Schutt errichtet wurde, wusste schon niemand mehr von diesem Raum. Nun also türmte sich hier der Bahndamm auf.

Jonas interessierte es nicht, ob der Fuchs diesen Raum gegraben hatte, worauf Knochenreste schließen ließen. Oder ob hier Bahnmitarbeiter ihren Pausenraum hatten, wofür feingeschnitzte Holzreste, Gewebefetzen und der glitzernde Metallschrott mit den bunten eingefassten Steinen Indizien sein konnten. Bei all dem Müll konnte genauso gut auch mal eine Kleingartenkolonie in der Nähe gewesen sein. Den schönen Raum auszumisten, um an eine bezahlbare Unterkunft in der Nähe der Uni zu kommen, hatte ihn ganz schön Arbeit gekostet. Einzig eine steinerne Kiste, in die genau seine Matratze passte, war ihm einigermaßen wertvoll. Die Fratze an der Decke würde später ebenfalls noch wegkommen. Natürlich war Jonas schon längst nicht mehr aus der Nachbarschaft wegzudenken. Er stand abends mit am Grill, er jätete mit im Nachbarschaftsgarten, machte bei Veranstaltungen mit. Auf seine Wohnung angesprochen, behauptete er aber immer, er wohne in Babelsberg. Spätestens dann fragte sowieso niemand mehr weiter.

Ganz in der Nähe wachte auch Lara von den Geräuschen des Regionalexpresses auf. Missmutig starrte sie auf den vergoldeten Putz an der Decke über ihr und fluchte über den billigen Pfusch unfähiger Handwerker. Was hatte sie nur bewegt, in diesen schrecklichen Stadtteil zu ziehen? Irgendwann hatten die ungehobelten Nachbarn einfach aufgehört, sie zu grüßen, obwohl sie zeitweise bei manchen fast schon zurückgegrüßt hatte. Diese Leute standen in lärmenden Gruppen beieinander und lachten gemeinsam über unlustige Witze. Auch die Selbstverständlichkeit, dass die Parklücke direkt vor ihrer Haustür wohl für sie frei bleiben sollte, respektierte hier niemand. Wie sollte man da nicht mit schlechter Laune aufwachen?

Der Sputnik begab sich aus Richtung Potsdam in seine Umlaufbahn und gemahnte sowohl Jonas als auch Lara zur Eile. Die alten Häuser spuckten Ströme von Menschen aus. Zwischendrin auch Jonas, der aus einer so offensichtlichen Tür trat, dass sie zum Übersehen gemacht war. Ein letzter gemeinsamer Moment für Fußgänger und Autofahrer an der roten Ampel in der Nansenstraße. Bei Grün geht es los. Doch der Tag sollte noch einige Überraschungen bereithalten. | Andreas Kellner

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